Es ist ja nun wirklich nicht so, dass es im kretischen Straßenverkehr keine Verkehrsregeln gibt oder diese Verkehrsregeln nicht beachtet werden. Es gibt Regeln, einige werden sogar relativ genau und streng beachtet, sie sind allerdings nicht immer ablesbar von Verkehrsschildern und scheinen auf einem historisch gewachsenen Übereinkommen aller Verkehrsteilnehmer zu gründen, an das sich aber diejenigen halten, die von diesen eher ungeschriebenen Regeln wissen. Das sind die Bewohnerinnen und Bewohner Kretas, das bist nicht unbedingt du, der Gast, der Tourist, die Besucherin. Aber, keine Angst: Rücksichtnahme, schon gar gegenüber offensichtlich Uneingeweihten gehört ebenfalls zu den Grundregeln kretischen Autoverkehrs. Und, gleich einen wichtigen Tipp für dich als Neuling hier vorab: Fühlst du dich überfordert, unwohl, gar unsicher: Schalte einfach das Warnblinklicht an und halte an, ganz egal, wo du gerade bist. Das machen Griechen auch so – auch dann, wenn sie sich, anders als du, gar nicht unsicher fühlen, sondern gewissermaßen nur warnen wollen, meistens vor sich selbst, so etwa mit der blinkenden, sichtbaren Aussage: "Achtung, ab sofort bin ich im Straßenverkehr nicht mehr zurechenbar, es ist anzunehmen, dass gleich etwas Unvorhersehbares passiert". Zum Beispiel: Plötzlich anhalten auf einer Kreuzung. Eine Einbahnstraße in die falsche Richtung fahren. Eine ganze Fahrgemeinschaft auf einer Schnellstraße aussteigen lassen. Heißt also für dich: Damit musst du immer rechnen, dass du damit gar nicht rechnen kann, was dann passiert – wenn ein Auto mit einem Warnblinklicht leuchtet.
Ganz grundsätzlich, so ist es in manchen Reiseführern auch zu lesen, sind Verkehrsschilder hier mehr als Empfehlung aufzufassen, nicht unbedingt als strikte Vorschrift. Das ist so, da haben die Reiseführer auch Recht. Und das merkst du spätestens dann, wenn du mit deinem Mietwagen vom Flughafen Heraklion auf die Autobahn fährst: Da steht nämlich am Ende der Auffahrt, bevor man sich in den schnellen Verkehr einordnet, ein "STOP-Schild". Nun wird es dir hier (hoffentlich ) nicht einfallen, auf der Beschleunigungsspur abzubremsen und anzuhalten, so, wie es das Zeichen, internationalen Gepflogenheiten folgend, eigentlich vorschreibt. Das bekannte Stop-Schild ist hier eher als eine Art "dringendere Mahnung" zu verstehen, dem fliessenden Verkehr die Vorfahrt zu gewähren. - Dieses Schild, schon gar so nahe an den Leihwagenstationen des Flughafens, vermittelt einen guten ersten Eindruck in die kretische Denkweise bei der Aufstellung von Verkehrsschildern: Sie zielen eben mehr auf das intuitive Verständnis als auf eine rigide Befolgung.
Das gilt übrigens auch für Fahrbahnmarkierungen, egal in welchen Formen und Farben. Durchgezogene Linien bedeuten nicht etwa zwangsläufig, dass hier nicht überholt werden darf, sondern eher, dass man beim Überholen besser als üblich aufpassen sollte. Doppelt durchgezogene Linien bedeuten folglich, dass man beim Überholen noch besser aufpassen muss. Weil das so ist, fährt auf breiten Schnellstraßen ohnehin ein langsameres Auto halb oder gleich ganz auf dem Standstreifen (wenn es einen gibt), um andere Autos besser und sicherer vorbeifahren zu lassen. Es sei immerhin angemerkt, dass das stete langsame Fahren auf den Standstreifen nicht so ganz ungefährlich ist, denn dort bewegen sich mitunter auch Ziegen, können abgestellte Fahrzeuge stehen, die Reste eine Erdrutsches die Weiterfahrt unmöglich machen. Daher sollte man besser nur dann auf einem Standstreifen fahren, wenn jemand hinter einem wirklich überholen will.
Noch etwas zur Sicherheit: Es gibt Geschwindigkeitsbegrenzungen, es gibt lokale Geschwindigkeitsbegrenzungen und es gibt auch Geschwindigkeitskontrollen. Solche lokalen Geschwindigkeitsbegrenzungen vor Kurven meinen aber vor allem: Achtung, Kurve. Geschwindigkeitsbegrenzungen vor Baustellen meinen vor allem: Achtung, Baustelle mit Schlaglöchern. Es geht also auch hier eher mehr um die Vermittlung einer Hintergrundinformation, als um die Vorschrift, wirklich auf einer vierspurigen Schnellstraße nur 30 Stundenkilometer zu fahren, weil da eine Kreuzung kommt - denn: Das wäre auch wirklich gefährlich. Hast du das trotzdem vor - du weisst das schon - bitte ganz recht auf dem Standstreifen fahre, vielleicht noch dazu das Warnblinklicht einschalten und die anderen überholen lassen.
Dank darfst du übrigens nicht unbedingt erwarten, wenn du dich vermeintlich großzügig verhältst und beispielsweise an engen Straßenabschnitten anderen den Vortritt lässt. Es wird als Selbstverständlichkeit gewertet, dass eine oder einer dem oder der anderen Vortritt gewährt, das kommt einfach nicht so darauf an.
Unbedingt erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang, dass Rechthaberei im Straßenverkehr hier ganz, ganz schlecht ankommt. Aus Rechthaberei zu hupen, um andere gar auf etwaige Verkehrsverstöße aufmerksam zu machen, wäre ganz schlechte Sitte. Ein solches Hupen würde aber vermutlich sowieso auch ganz anders verstanden: In kretischen Städten und Dörfern wird viel gehupt – und viel gewunken übrigens auch. Das aber nur, weil Autofahrer, Motorradfahrer, Fahrradfahrer, Fußgänger sich auf diese Weise freundlich grüßen. Wenn du also in deinem Dorf immer mal wieder angehupt wirst, dann musst du nicht gleich denken, dass etwas an deinem Auto nicht stimmt. Du kannst dich darüber freuen, wie viele Menschen dich hier schon kennen...!
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